Zerstörte Scheiben des Wahlkreisbüros von Robert Habeck.

Neue Dunkelfeldstudie Drei von fünf Politikern erleben Gewalt

Stand: 27.05.2025 11:36 Uhr

Mehr als 60 Prozent der deutschen Politiker haben schon mindestens einmal Gewalt erfahren, zeigt eine Studie. Demnach ändern schon jetzt rund 20 Prozent deshalb ihr Verhalten.

Von Katrin Kampling, NDR

Rund 1.500 Politikerinnen und Politiker von der kommunalen Ebene bis zur Bundespolitik haben die Wissenschaftlerinnen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KfN) für eine Studie befragt. Sie wollten wissen, inwiefern Politiker Gewalt und Aggressionen erleben - und welche Auswirkungen das hat.

Wie die Studie zeigt, sind die Folgen schon jetzt gravierend: Jeder Fünfte gibt an, aufgrund der Gewalterfahrungen das eigene Verhalten schon jetzt zu ändern. Demnach sind besonders Politiker betroffen, die Themen wie Diskriminierung, Klima oder Gleichstellung ansprechen. Die Politiker würden nicht mehr auf Veranstaltungen oder in den Wahlkampf gehen. Frauen seien häufiger betroffen als Männer, besonders von sexualisierter Gewalt. 

Gravierende Folgen für Demokratie

"Wenn sie sich so aus der Politik zurückziehen, dann wird diese repräsentative Form der Demokratie untergraben", sagt Politikwissenschaftlerin und Studienautorin Anne-Kathrin Kreft. Denn damit fielen Perspektiven aus der politischen Debatte heraus. "Das hat Auswirkungen für jeden Bürger und jede Bürgerin in Deutschland."

Es ist die erste Dunkelfeldstudie, die Aggressions- und Gewalterfahrungen von der Kommunal- bis zur Bundesebene über Parteigrenzen hinweg sowie die Folgen der Gewalt erhebt. Gefördert wurde das Projekt von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Die Studie ist nicht repräsentativ, bietet aber erstmals tiefergehende Erkenntnisse darüber, wie verbreitet die Angriffe und wie einschneidend die Folgen in Deutschland sind.

So zeigen die Forscherinnen auch, dass Politiker nicht selbst betroffen sein müssen, um ihr Verhalten zu ändern: Etwa zehn Prozent der Befragten gaben an, sie hätten sich in ihren Äußerungen schon zurückgehalten, weil andere Politiker aus ihrem Umfeld betroffen waren.

Massive Drohungen

Wie gravierend diese Drohungen sein können, zeigt beispielhaft der Fall des ehemaligen Landrats Dirk Neubauer. Der parteilose Politiker war Landrat für Mittelsachsen, bis er schließlich so stark bedroht wurde, dass er umziehen musste. Seine neue Anschrift ist geheim. Bei ihm sei es mit Onlinehetze losgegangen, erinnert er sich im Interview mit dem NDR-Politikmagazin Panorama 3. Es habe sich aber schnell gesteigert: "Dann steht plötzlich im Supermarkt mal jemand vor dir und sagt: 'Dich kriegen wir noch.'"

Es folgten Drohbriefe, dann habe jeden Abend ein fremdes Auto vor seinem Haus gestanden. "Sie wissen in dem Moment auch: Wenn die jetzt wollten, dann könnten die irgendwas", sagt Neubauer. Am Ende fuhren Rechtsextreme in Autokorsos an seinem Wohnhaus vorbei.

Im Sommer 2024 entschloss er sich zum Rücktritt. "Ich gebe auf, weil mir da draußen zu viele den Mund halten", sagte er damals. Die Solidarität habe einfach gefehlt. Heute ist ihm wichtig, dass die schlimmsten Drohungen aus der sogenannten Mitte kämen. "Wir verschieben nicht nur das Sagbare immer weiter", sagt Dirk Neubauer, "sondern auch das Machbare." Wenn eine CDU eine Personenjagd aufmache gegen beispielsweise Robert Habeck oder Kevin Kühnert, dann finde sich auch jemand, der dem folge. "Wir müssen es schaffen, die Leute wieder zurückgewinnen", sagt Neubauer. "Das geht nur über Zukunftsideen, hinter denen sich Leute versammeln können."

Quereinsteigerinnen als Chance

Eine Chance könnten auch Projekte wie "Love Politics" sein. Der Verein will mehr Menschen für Politik begeistern, die bisher nicht ausreichend repräsentiert sind: also Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen, Menschen mit Behinderungen oder ohne akademische Abschlüsse. Mit Seminaren und Praktika sollen die Quereinsteiger den Weg in die Politik finden, ohne den klassischen Weg über die Parteijugend-Organisationen gegangen zu sein.

Eine der Absolventinnen ist Taibe Qorri. Die Friseurmeisterin aus Neukirchen-Vluyn ist über den Verein 2024 in die Kommunalpolitik gekommen. Jetzt steht sie für die Stadtratswahl auf Listenplatz 3 der Grünen. Sie sei unzufrieden mit der Politik gewesen, sagt Qorri. Also wolle sie jetzt was ändern, selbst Teil der Lösung sein.

Als Friseurmeisterin sei sie wie gemacht dafür: "Ich habe wirklich alle Perspektiven in meinem Salon sitzen", sagt sie. Und immer öfter merke sie, wie politikverdrossen ihre Kundschaft zum Teil sei. "Meckern ist einfach", sagt Taibe Qorri. Die Kunst sei es, aus der Unzufriedenheit ins Machen zu kommen. "Wir sollten verstehen, dass die Politik nicht die da oben sind. Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an."

Dass sie später einmal Ziel von Aggressionen oder Gewalt werden könnte, hält Qorri nicht ab. "Ich bin nicht der Typ, der sich vorher schon Probleme macht", sagt sie und lacht. "Da bin ich pragmatisch."

Kaum Strafanzeigen

Wissenschaftlerin Kreft sieht unter anderem die Justiz in der Pflicht. Denn die KfN-Studie zeigt, dass nur rund 13 Prozent der betroffenen Politiker den schlimmsten Übergriff angezeigt haben, den sie in den vergangenen sechs Monaten vor dem Zeitpunkt der Befragung erfahren haben. Dabei geht es auch um tätliche Angriffe.

Einer der Gründe: die mit der Anzeige verbundene Bürokratie. Spezialisierte Staatsanwaltschaften für Hass und Hetze könnten da helfen, glaubt Kreft, ebenso wie beschleunigte Verfahren. "Wenn sich der Trend, den wir in unseren quantitativen Daten sehen, fortsetzt", sagt sie, "dann sehe ich wirklich schwarz für die Demokratie."

Mehr dazu heute Abend, Panorama 3, NDR Fernsehen, 21:15 Uhr