
Berlin Ausstellung | Lygia Clark. Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie
Lygia Clark wollte die Grenzen zwischen Kunstwerk, Raum und Publikum auflösen. Die erste Retrospektive der brasilianischen Künstlerin in Deutschland spricht alle Sinne an. Wer sie nur durch Schauen erfahren will, verpasst das Wesentliche. Von Marie Kaiser
Bitte anfassen, hineinschlüpfen und mit der Kunst verschmelzen! So könnte eine kurze Gebrauchsanweisung für die Retrospektive der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark lauten. Der Malerin, Bildhauerin und Installationskünstlerin ging es immer darum, den Körper und die Sinne in den Mittelpunkt der künstlerischen Erfahrung zu stellen.
Fast 40 Jahre nach ihrem Tod zeigt die Neue Nationalgalerie nun die erste deutsche Retrospektive von Lygia Clark, die als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der modernen Kunst Südamerikas gilt. Die Ausstellung vollzieht in insgesamt 120 Arbeiten die Entwicklung der Künstlerin nach. Von geometrisch-abstrakten Bildern, die Lygia Clark in den 1940er Jahren malte, über partizipativ angelegte Skulpturen der 1960er Jahre bis hin zu ihren therapeutischen Arbeiten in den 1980er Jahren.
Skulpturen als lebendige Wesen
Wer hier nur schauen will, dem entgeht das Wesentliche. In allen Bereichen, die durch farbige Teppichen markiert sind, handelt es sich um Repliken der Kunstwerke, die berührt, gerochen, angezogen, aus der Nähe belauscht und empfunden werden dürfen. Lygia Clark betrachtete ihre Arbeiten nicht als passive Objekte, sondern als „lebende Organismen“, die durch Berührung, Bewegung und sinnliche Erfahrung aktiviert werden.
Das beginnt bei den "Bichos"- was übersetzt "Kreatur" oder "kleines Tier" bedeutet. Die "Bichos" sind bewegliche Skulpturen aus Metall, die nicht nur angeschaut, sondern umgestaltet werden dürfen. Die geometrischen Metallplatten sind durch Gelenke miteinander verbunden und können beliebig hin- und hergeklappt werden.
"Lygia Clark hat sich früh von der Malerei abgewandt", erklärt Alessandra Clark, die Enkelin der Künstlerin, die die Retrospektive mit gestaltetet hat. "Aber wie in ihren Gemälden, ging es Lygia auch bei den Bichos im Grunde darum, mit verschiedenen Schichten zu spielen. Die "Bichos" können flach zusammengeklappt werden, aber lassen sich dann zu 3-D-Formen auffalten, so dass man sie aus unterschiedlichen Winkeln betrachten kann und selbst, neue Formen erfinden kann."
Eine Ausstellung, die auch Kinder glücklich macht
Die Neue Nationalgalerie geht offensiv damit um, dass diese Kunst zum Anfassen vermutlich auch bei Kindern gut ankommen dürfte und hat extra ein Begleitheft zur Ausstellung für Familien herausgebracht. Auch Alessandra Clark erinnert sich im Interview mit rbb24, wie sie als Kind im Haus ihrer Großmutter stundenlang mit den "Bichos" spielte. "Wir durften alles ausprobieren und mit allem experimentieren. Die "Bichos" faszinierten mich dabei besonders."
Sinneserfahrungen unter der Sturmhaube
Nach den "Bichos" entwickelte Lygia Clark dann ihre "sensorischen Objekte", die nicht nur mit den Händen, sondern mit dem ganzen Körper erfahren werden. "Lygia Clark war davon überzeugt, dass es nicht ausreicht, nur zu schauen, um die Kunst und auch sich selbst besser zu verstehen. Ihre Idee war es, dass die Menschen Teil des Kunstwerks und damit auch selbst zu Künstlern werden", so erklärt es ihre Enkelin Alessandra Clark.
Brillen, bunte Ganzkörperanzüge und Masken - alles darf in der Ausstellung ausprobiert werden. Auf Holzstäben hängen die "Máscaras Sensoriais" in verschiedenen Farben. Die "Sinnesmasken" werden wie Sturmhauben über den Kopf gezogen und verändern die Wahrnehmung, weil in den Bereich von Augen, Ohren und Nase bestimmte Materialien eingenäht wurden. Die schwarze Maske sorgt dank starkem Rosmarinduft für besonders tiefes Einatmen. Wer sie aufsetzt, kann sich außerdem mit Hilfe von kleinen Spiegeln selbst in die Augen schauen. In der pinken Maske ist die Sicht auf schmale Schlitze verengt, dafür klappert es bei jeder Bewegung ohrenbetäubend und ein intensiver Nelkengeruch umnebelt die Sinne.
Dass körperliche Erfahrungen wie diese auch unsere Psyche beeinflussen, war für Lygia Clark bei ihrer Arbeit immer ein wichtiger Punkt, erklärt Alessandra Clark. "Ich glaube, ihr ging es darum, dass wir uns durch ihre sensorischen Objekte mit Gefühlen verbinden, die wir nicht in Worte fassen können. Es ging ihr um den Teil unserer Geschichte, den wir nicht bewusst mit unserem Gehirn erinnern, sondern der in den Tiefen unserer Körperzellen steckt. Und vielleicht erinnern wir uns durch die Kunsterfahrung an etwas, das wir dann unserem Therapeuten erzählen können."
Zum Ende ihrer Karriere hat Lygia Clark dann sogar Therapiesitzungen veranstaltet zur Auflösung innerer Blockaden. Außerdem hat sie kollektive Aktionen angeleitet, bei denen mehrere Personen miteinander interagieren. Wie "Corpo collectivo", bei der die Teilnehmenden Overalls in verschiedenen bunten Farben tragen, die die durch dünne Fäden zusammengenäht sind. So sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und müssen sich untereinander abstimmen - sich achtsam als kollektiver Körper bewegen.

Lygia Clark. Retrospektive, Ausstellungsansicht, Neue Nationalgalerie, 2025
Ein Kunstparcours wie eine Wiedergeburt
Die Idee, dass Kunst und Leben miteinander verbunden sein müssen, gipfelt in einer der bekanntesten Arbeiten von Lygia Clark von 1968 mit dem Titel "A casa é o corpo" ("Das Haus ist der Körper"). Eine begehbare Installation, die wie ein Parcours angelegt ist, der alle alle Stufen der Fortpflanzung durchläuft von Empfängnis, über die Entwicklung des Kindes bis zur Geburt.
Rein geht es durch einen schwarzen Vorhang aus gespannten Gummibändern, weiter über wacklige Böden und Räume mit Luftballons und Plastikbällen, kriechend durch ein Zelt, bis man am Ende durch bunte Baumwollschnüre und eine knatternde Drehtür flutscht und mit leichtem Schwindel das eigene von der Geburt leicht deformierte Gesicht anschaut in einem verzerrten Spiegel. Wer sich darauf einlässt, kann sich hier also am Ende wie neu geboren fühlen.
Die Lygia Clark Retrospektive ist noch bis 12. Oktober zu sehen in der Neuen Nationalgalerie am Kulturforum in Berlin. Geöffnet ist an allen Tagen außer montags. Der Eintritt kostet 16, ermäßigt 8 Euro. Am Donnerstagabend (17:30 bis 19:30 Uhr) und Sonntagmittag (12 bis 14 Uhr) finden in der Ausstellung Performances wie "Corpo collectivo" statt, an denen das Publikum sich beteiligen kann.

Lygia Clark. Retrospektive, Ausstellungsansicht, Neue Nationalgalerie, 2025, © Neue Nationalgalerie - Stiftung Preußischer Kulturbesitz / David von Becker
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