Eine historische Ansichtskarte von Alt Rehse. Auf einem Appellplatz steht ein Fahnenmast mit einer Hakenkreuzfahne.

Mecklenburg-Vorpommern Ärzte als NS-Verbrecher: Vom Erbe der Führerschule Alt Rehse

Stand: 28.05.2025 10:58 Uhr

Menschenversuche, Zwangssterilisation, Euthanasie: Während der NS-Zeit agierten Ärzte, Pfleger und Hebammen als willfährige Helfer. Die inhumane nationalsozialistische Ideologie im Gesundheitswesen wurde in der vor 90 Jahren eröffneten "Führerschule" Alt Rehse gelehrt.

Von Heiko Kreft

Backstein, Fachwerk, Reetdächer - auf den ersten Blick ist Alt Rehse ein typisch norddeutsches Dorf. Doch bei genauerem Hinblick irritieren Details. Im Ortskern des am Tollensesees bei Neubrandenburg (Landkreis Mecklenburgische Seenplatte) gelegenen Dorfes sehen viele Häuser sehr ähnlich aus. Sie tragen Namen wie "Haus Mecklenburg" oder "Haus Kurhessen". Die sind in gebrochener gotischer Schrift in die Holzbalken eingeritzt. Besucherinnen und Besucher geraten aber vor allem wegen Inschriften wie "Errichtet im 3. Jahre" ins Grübeln. Damit ist 1935 gemeint, das dritte Jahr der NS-Diktatur. Aus Sicht der Nationalsozialisten begann damals eine neue Zeitrechnung. Auch im Bereich der Medizin.

Schulungsort für KZ-Ärzte

"Alt Rehse war ein Ausbildungsort für Ärztinnen und Ärzte, für Hebammen, für Pflegekräfte", berichtet Michael Wunder. Er ist Vorsitzender des 2001 gegründeten "Verein für die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse". Zusammen mit den anderen Vereinsmitgliedern kümmert er sich um das Erbe der sogenannten "Führerschule der Reichsärzteschaft". Mehr als 10.000 Mediziner wurden dort indoktriniert und in Fragen der Eugenik, "Rassenhygiene" und "Rassenanthropologie" geschult. "Das hatte natürlich eine unheimliche Ausstrahlung. Bis in die Konzentrationslager hinein", so Michael Wunder. Im Mittelpunkt der Schulungen habe die Frage gestanden, wie Mediziner dem "Volkskörper" dienen und ihn gesunden können.

Eröffnung live im Radio übertragen

Zur Einweihung der sogenannten Führerschule kam am 1. Juni 1935 hohe NS-Prominenz nach Alt Rehse. Aus Berlin reisten unter anderem Rudolf Hess und Martin Bormann an - der eine Stellvertreter Adolf Hitlers, der andere Reichsleiter der NSDAP. Alle deutschen Radiostationen übertrugen die Eröffnung live. "Wir nationalsozialistischen Ärzte wollen die Vorkämpfer sein für neue biologische Grundsätze in Medizin und Naturwissenschaft, die auf das engste verwurzelt sind mit Blut und Boden unseres Volkes und Vaterlandes", tönt damals Hans Deuschl, Leiter der "Führerschule" und Mitbegründer des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes.

Hunderttausendfache Medizin-Verbrechen

Die verbrecherischen Folgen dieses Ansatzes: Bis zu 300.000 ermordete Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, bis zu 400.000 zwangssterilisierte Menschen. In Konzentrationslagern wurden an schätzungsweise 29.000 Insassen medizinische Experimente durchgeführt. "Alt Rehse ist kein Tatort in dem Sinne, dass hier direkt Unrecht ausgeführt worden ist. Aber es ist in dem Sinn ein Tatort, dass Ärzte und auch zum Beispiel Pflegekräfte, Hebammen hier geschult wurden in der Denkweise des Staates und der Gesundheitspolitik", ordnet Professor Volker Roelcke ein. Er lehrt Medizingeschichte an der Universität Gießen und war Mitglied einer internationalen Kommission zur NS-Medizin.

Forderung nach mehr historischer Bildung

Das Wissen und die Erfahrungen über die Medizin in der NS-Diktatur, sagt Volker Roelcke, sollten dazu genutzt werden, über problematische Dinge der modernen Medizin nachzudenken. "Und das betrifft eben auch die Medizin in den USA, in Japan, in China, in Indochina und so weiter", so Roelcke. Wie die anderen Mitglieder der Kommission zur NS-Medizin fordert er, dass künftig alle Auszubildenden und Studierenden in Gesundheitsberufen sich mit der Geschichte der NS-Medizin auseinandersetzen. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Pflicht zum Besuch historischer Orte?

Auch Daniel Rottke findet das sinnvoll. Der Professor für Medizin, Gesundheitswissenschaften und Medical Humanities an der Hochschule Neubrandenburg organisiert regelmäßig Exkursionen zu Tatorten der NS-Medizin. Für Studierende seiner Hochschule, aber auch der Berliner Charité. "Wir brauchen Auseinandersetzungen mit diesen Orten auch verpflichtend", sagt er im NDR Podcast "MV im Fokus". Mit den Studierenden besucht Daniel Rottke beispielsweise das Konzentrationslager Ravensbrück, wo Experimente an Menschen durchgeführt wurden. Aber auch Alt Rehse, dem Ort wo die theoretischen Grundlagen der Verbrechen vermittelt wurden: "Man ist da näher dran an der Realität. Man kann das weniger verdrängen, wenn man mal da war."

Netzwerk von Berlin, Brandenburg und MV

Um das Wissen über die Geschichte der NS-Medizin noch mehr zu verbreiten, wollen Erinnerungs- und Gedenkorte in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern verstärkt zusammen arbeiten. Einbezogen werden könnten auch Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen. Darüber wurde jetzt bei einer Tagung in Alt Rehse gesprochen. Für Michael Wunder vom Verein EBB Alt Rehse stellen sich wichtige Fragen: "Wie können wir junge Menschen erreichen? Wie können wir Menschen erreichen, die sehr fern von der deutschen Geschichte sind, weil sie einen Migrationshintergrund haben? Und wie können wir überhaupt was erreichen in einer Gesellschaft, die ja zunehmend die NS-Geschichte für etwas hält, wo man vielleicht einen Schlussstrich machen sollte, was uns natürlich sehr bedenklich erscheint."

"Ärzte als NS-Verbrecher: Vom Erbe der Führerschule Alt Rehse" - mehr zum Thema gibt es in der aktuellen Folge des Podcasts "MV im Fokus". Zu finden in der ARD Audiothek und überall da, wo es Podcasts gibt.

Dieses Thema im Programm:
NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 27.05.2025 | 17:40 Uhr