
Russlands Provinz Tatarstan Weit weg vom Krieg - und doch betroffen
Im vierten Kriegsjahr spürt man auch in der russischen Provinz Tatarstan die Folgen westlicher Sanktionen - Inflation, unterbrochene Handelsketten, aber auch den Boom der Rüstungsindustrie. Und wie funktioniert das Zusammenleben?
Verträumt steht Wenera Mojsejewa in ihrem Atelier, vor dem beigen Abendkleid, mit dem sie so viele Erinnerungen verbindet, und blättert in ihrer Vergangenheit.
Es sind die Bilder im Magazin einer Pariser Modenschau, an der sie vor Jahren teilnahm: "Wir hatten eine Modenschau im Hotel Ritz in Paris. Dort hat Coco Chanel einige Jahre gelebt. Wir waren so glücklich. Das ist mein Kleid. Und hier: Ich hatte noch nie solche Gebäude gesehen."
Aber solche Reisen sind nicht mehr so einfach zu machen von Russland aus.

Um in Zeiten von Sanktionen an die Stoffe für ihre Kleider zu kommen, muss der Lieferant von Wenera Mojsejewa eigene Wege gehen.
Die Inflation belastet Händler und Käufer
Schon gar nicht aus Tatarstan, 800 Kilometer östlich von Moskau. Hier, in der Kleinstadt Arsk, lebt und arbeitet Wenera. Die vergangenen Jahre haben für sie viele Herausforderungen gebracht. Die Inflation von derzeit fast elf Prozent lässt ihre Kleider immer teurer werden.
Die schönen Stoffe aus Italien gibt es noch, weil ihr Lieferant gute Beziehungen hat - die braucht man unter dem Sanktionsregime des Westens. Aber gerade deshalb spürt Wenera hier die Preisaufschläge: "Das waren in den vergangenen Jahren bestimmt 25 Prozent."

Ein Denkmal für "Helden"
Auch ihr Gemüsehändler Oybek spürt, dass Geld beim Kunden fehlt: "An dem Tag, an dem sie ihre Rente oder ihr Gehalt bekommen, ist der Verkauf gut. Wenn es Ende des Monats ist oder sie nicht mehr genug Geld haben, dann bleibt ihnen weniger übrig. Vergangenes Jahr war es besser", erzählt er. Und fügt hinzu: "Aber jetzt sind wir noch am Anfang des Jahres."
Die Ursache für viele alltägliche Herausforderungen ist der Krieg in der Ukraine. Hier in Arsk ist den "Helden der Spezial-Militäroperation" ein Denkmal gewidmet. Ein Gedenkstein mit Dutzenden Namen, ein echtes Flugzeug, ein Panzer, daneben ein Spielplatz und Bänke im Grünen.
Die ferne, brutale Realität, eingerahmt in die Beschaulichkeit des Kleinstadt-Alltags.

Auch Arsk hat sein Denkmal für die Soldaten und Gefallenen des Ukraine-Krieges.
Boom mit Gründen
Die Rüstungsindustrie hat ihre Produktion vervielfacht, sie treibt die Einkommen auf dem enger werdenden Arbeitsmarkt und damit die Inflation. Unternehmen in rein zivilen Branchen oder Einzelhändlern fehlen oft Arbeitskräfte, ihre Kosten steigen.
50 Kilometer weiter in Kasan, der Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan, klärt Artur Nikolajew von der Industrie- und Handelskammer über die Lage der Region auf. Trotz Sanktionen habe es im vergangenen Jahr bei der Ölförderung einen kleinen Zuwachs gegeben.
Nikolajew sagt, das sei aber bei der positiven Gesamtentwicklung zu vernachlässigen: "Vor allem, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel der Maschinenbau um 80 Prozent gestiegen ist."
Was er nicht weiter erklärt: In Tatarstan werden auch Lastwagen, Hubschrauber und Flugzeuge produziert - alles Bereiche des Maschinenbaus, die auch dem Militär zuliefern.
Dagegen klagten vergangene Woche die russischen Produzenten von Agrarmaschinen über mangelnde Nachfrage, weil in der Landwirtschaft Geld für Investitionen fehle.
Deutlich mehr Tourismus
Was boomt, ist der Tourismus. Zehn Prozent hat der im vergangenen Jahr zugelegt. Vor allem Russen kommen nach Kasan, eine Stadt, die traditionell von der Vielfalt der Religionen und Ethnien in Russland geprägt ist.
Ziel aller Touristen ist der Kreml, der unter anderem die beeindruckende Kul-Sharif-Moschee und die orthodoxe Maria-Verkündigungskathedrale beherbergt. Das Nebeneinander der Bauten steht für eine Geschichte von gelebtem Miteinander.

Der Kreml von Kasan ist eine der großen Attraktionen der Stadt.
"Das ist unser größter Reichtum"
Auch Experte Artur Nikolajew und Modedesignerin Wenera Mojsejewa sind in gemischten Familien aufgewachsen: muslimisch und christlich-orthodox, russisch und tatarisch. Es ist ein Gefühl von Toleranz, die Stadt und Region atmen.
Doch Ilfar Hazrat Khasanov möchte es lieber anders umschreiben. Er ist stellvertretender Mufti der Republik Tatarstan und er mag das Wort Toleranz nicht: "Wir brauchen das Wort Toleranz nicht. Denn wenn wir uns die Bedeutung dieses Wortes ansehen, dann ist Toleranz Geduld, 'ertragen', und wir ertragen nichts. Wir respektieren einander, wir sind Freunde, ganz menschlich. Und das ist unser größter Reichtum."
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