
Russlands Angriffskrieg Was über den ukrainischen Drohnenangriff bekannt ist
Tief im russischen Hinterland haben ukrainische Drohnen Luftwaffenstützpunkte angegriffen. Die Ukraine gibt an, Dutzende strategische Bomber Russlands zerstört zu haben. Wie soll sich der Angriff abgespielt haben - und wie reagiert Russland?
Welche russischen Stützpunkte hat die Ukraine angegriffen?
Die Ukraine hat am Sonntag mindestens vier Stützpunkte der russischen Luftwaffe angegriffen: den Stützpunkt Iwanowo in der gleichnamigen Region nordöstlich von Moskau, den Stützpunkt Djagilewo im Gebiet Rjazan südöstlich von Moskau, den Stützpunkt Olenja im Gebiet Murmansk im äußersten Nordwesten Russlands sowie den Stützpunkt Belaja im Gebiet Irkutsk in Sibirien. Widersprüchliche Meldungen gibt es zudem über einen Angriff auf den Stützpunkt Ukrainka im Gebiet Amur in Russlands fernem Osten nahe der Grenze zu China.
Bemerkenswert daran ist unter anderem, dass es der Ukraine gelang, so tief im Inneren Russlands zuzuschlagen. So liegt der Stützpunkt Belaja rund 4.200 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Es war überhaupt der erste ukrainische Angriff in Sibirien nach Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine durch Russland im Februar 2022.

Wie wurde der Angriff ausgeführt?
Der Angriff auf die Stützpunkte wurde nach Auskunft von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit 117 sogenannten FPV-Drohnen durchgeführt. Die Abkürzung steht für den englischen Begriff "First Person View" und kann mit Ich-Perspektive übersetzt werden. Sie werden aus der Distanz mit Hilfe einer Drohnen-Kamera und einer Video-Brille gesteuert, mit deren Hilfe der Pilot das Bild der Drohnen-Kamera sieht, als sei er selbst an Bord. Diese Drohnen sind vergleichsweise billig herzustellen und werden im Krieg von beiden Seiten im großen Stil eingesetzt.
Offenbar war es dem ukrainischen Militär gelungen, diese Drohnen in den vergangenen Monaten heimlich mit Lkw in die Nähe der Stützpunkte zu bringen. Sie befanden sich demnach in Containern, deren Dach ferngesteuert geöffnet werden konnte. Dadurch konnten die Drohnen offenbar die russische Luftabwehr unterlaufen und die Stützpunkte in kurzer Zeit angreifen.
Selenskyj hob hervor, dass die Operation 18 Monate lang vorbereitet worden sei. Alle, die auf dem Territorium Russlands an der Aktion beteiligt gewesen seien, habe man rechtzeitig außer Landes gebracht.
Was wurde bei dem Angriff getroffen?
Nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes SBU wurden 40 Kampf- und Aufklärungsflugzeuge zerstört, unter anderem Kampfflugzeuge vom Typ Tupolew Tu-95 und Tu-22 sowie ein Aufklärungsflugzeug vom Typ Berijew A-50.
Präsident Selenskyj sagte, damit seien 34 Prozent von Russlands strategischen Kampffliegern zerstört worden, die weiter entfernte Ziele mit Marschflugkörpern angreifen können - auch in der Ukraine, wie in der Vergangenheit wiederholt geschehen. Der SBU bezifferte den Schaden, den Russland damit erlitten habe, auf sieben Milliarden Dollar.
Die Angaben des russischen Verteidigungsministeriums weichen davon deutlich ab. Das Ministerium räumt ein, dass ukrainische FPV-Drohnen Stützpunkte in den Regionen Irkutsk und Murmansk angegriffen hätten. Mehrere Flugzeuge seien dabei in Brand geraten. Angriffe auf Stützpunkte in den Oblasten Rjasan, Iwanowo und Amur seien jedoch abgewehrt worden. In der Region Amur habe ein Lkw mit Drohnen Feuer gefangen, bevor die Drohnen hätten gestartet werden können.
Bislang hatte die Ukraine vor allem mit größeren Drohnen versucht, russische Stützpunkte zu treffen. Da diese für die russische Armee leichter zu entdecken sind und sich länger durch den Luftraum bewegen, können sie leichter ausgeschaltet werden.
Als Reaktion auf die Angriffe verlegte Russland viele strategische Bomber auf Stützpunkte, die weiter entfernt von der Ukraine sind.

Ein von Igor Kobzew, Gouverneur der russischen Region Irkutsk, in seinem Telegram-Kanal veröffentlichtes Bild soll einen Lkw mit Container zeigen, von dem aus angeblich die Drohnen gestartet wurden, die einen Luftwaffenstützpunkt in der Region angegriffen haben.
Wie schwer trifft Russland der Angriff?
Sollten die ukrainischen Angaben zutreffen, wäre der militärische Schaden für Russland erheblich. Von dem Aufklärungsflieger A-50, der vor Bewegungen gegnerischer Flugzeuge oder Schiffe und vor Raketenangriffen warnt, soll Russland nach Medienangaben nur noch weniger als zehn Stück besitzen.
Die strategischen Bomber Tu-22 und Tu-95 sind nicht nur für den russischen Luftkrieg gegen die Ukraine wichtig - sie können aus größerer Entfernung und damit außerhalb der Reichweite der ukrainischen Flugabwehr Ziele mit konventionellen Marschflugkörpern angreifen. Der Langstreckenbomber Tu-95 ist darüber hinaus wichtig für die Fähigkeit Russlands, im Falle eines Atomkriegs einen Zweitschlag durchführen zu können, also auf einen ersten nuklearen Angriff noch reagieren zu können.
Die Tu-95 und Tu-22 wurden noch zu Sowjetzeiten entwickelt und werden beide nicht mehr gebaut. Der Verlust solcher Maschinen ist somit derzeit für Russland unersetzlich.

Das Frühwarnflugzeug A-50 ist ein wichtiges Element in Russlands Kriegsführung. Doch die russische Luftwaffe hat in den vergangenen Jahren viele Flieger vom Typ A-50 verloren.
Wie reagiert Russland?
Russland reagierte bislang nur spärlich auf die Angriffe. Das Militär bestätigte "Terrorangriffe" und meldete "einige" beschädigte Flugzeuge bei Murmansk und Irkutsk.
Umso heftiger fielen die Reaktionen in den Medien und seitens russischer Militärblogger aus. Das Boulevardblatt Moskowskij Komsomoljez bezeichnete den 1. Juni als "schwarzen Tag für Russlands Langstrecken- und Militärtransportflieger", sagte "ernsthafte Ermittlungen innerhalb des Militärs" und anderer Sicherheitsorgane voraus und erinnerte daran, "unter Stalin wären für solche Fehler sicher ein paar Kommandeure an die Wand gestellt worden". Warum, so fragte der Kommentator weiter, werde mit "Selenskyj und seiner terroristischen Umgebung" eigentlich nicht so verfahren, wie mit der Führung der Hamas, die von Israel getötet wurde?
Roman Alechin, dessen Telegram-Kanal 175.000 Menschen abonniert haben, bezeichnete den Militärschlag als "Russlands Pearl Harbor", verglich ihn also mit dem Angriff der Japaner auf die US-amerikanische Pazifikflotte vor Hawaii von 1941. Die USA hatten Japan daraufhin den Krieg erklärt, woraufhin wiederum Nazi-Deutschland und Italien den USA den Krieg erklärten. Er hoffe, so Alechin, die Antwort Russlands werde ebenso ausfallen - "oder sogar härter".

Er hoffe, so Roman Alechin, dass die Antwort Russlands ebenso ausfallen werde - "oder sogar härter".
Und die Ukraine?
Präsident Selenskyj zeigte sich hocherfreut und lobte diejenigen, die an der Vorbereitung und Durchführung des Angriffs beteiligt gewesen waren. Es sei eine "brilliante Aktion" gewesen, durch die Russland "signifikante Verluste" erlitten habe.
Mit sichtbarer Genugtuung gab Selenskyj auch preis, dass die operative Vorbereitung in Russland praktisch unter den Augen des russischen Geheimdienstes FSB gelaufen sei - nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft eines regionalen FSB-Hauptquartiers.
Steht die Aktion in Zusammenhang mit den Verhandlungen in Istanbul?
Auch wenn die Aktion rund 24 Stunden vor einer neuen Verhandlungsrunde über ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine stattfand, ist ein Zusammenhang doch unwahrscheinlich. Angriffe dieser Art sind hochkompliziert, brauchen eine lange Vorbereitungszeit und können ab einem bestimmten Punkt auch nicht mehr beliebig verschoben werden.
Präsident Selenskyj selbst sprach - siehe oben - von eineinhalb Jahren zwischen Anordnung und Durchführung der Aktion. Anfang 2024 aber war noch nicht absehbar, wann es wieder zu Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine kommen würde. Insofern dürfte es sich um einen Zufall handeln.