Mehrere Leute in Gala-Outfits posieren am roten Teppich von Cannes (Das Team von "Amrum" mit Fatih Akin und Diane Kruger)

Hamburg Wie Fatih Akin das Jahr 1945 für "Amrum" zum Leben erweckt

Stand: 17.05.2025 11:30 Uhr

In Cannes hat Fatih Akins zwölfter Spielfilm "Amrum" Weltpremiere gefeiert. Dort spricht der Hamburger Filmemacher über die Herausforderungen, einen Historienfilm auf einer Insel zu drehen und das Jahr 1945 überzeugend nachzubilden.

Vor acht Jahren präsentierte Fatih Akin sein Drama "Aus dem Nichts" in Cannes, seine Hauptdarstellerin Diane Kruger wurde als beste Schauspielerin gekürt. Nun kehrte der 51-jährige Hamburger Filmemacher an die Croisette zurück: mit einem Historienfilm über die Kindheit seines Mentors und Lehrers Hark Bohm auf Amrum. Darin erlebt der zwölfjährige Nanning auf der Nordseeinsel die letzten Tage des Krieges. Nun hat der Film "Amrum" in Cannes Weltpremiere gefeiert.

NDR Kultur hat den Filmemacher und Drehbuchautoren, der das Buch gemeinsam mit Hark Bohm geschrieben hat, kurz nach der Premiere gesprochen.

Zu Beginn des Filmes steht zu lesen: "Ein Hark-Bohm-Film von Fatih Akin". Wann haben Sie von Hark Bohm das Projekt übernommen - und waren die Parallelen zur heutigen Zeit im Vergleich zum Jahr 1945 schon im Drehbuch enthalten?

Fatih Akin: Ja, ich habe Hark überredet, das zu machen. Er wollte einen anderen Film machen, ich sollte das produzieren. Einen Film über das Dritte Reich. Ich habe gesagt, das ist viel zu teuer, zu aufwendig, zu groß. Ich habe es als Independent-Produzent nicht finanziert bekommen. Ich habe gesagt, Hark, warum wolltest du das überhaupt machen? Und er sagte: "Wegen meiner Eltern. Meine Eltern waren Nazis. Nazis, Fatih. Meine Mutter war ein Nazi. Aber ich habe sie geliebt, weil es meine Mutter ist." Er sagte, "Mein Vater ist von den Engländern vor meinen Augen verhaftet worden, auf Amrum." Dann hat er mir erzählt von seiner Kindheit auf Amrum.

Das war zu der Zeit, wo Filmemacher Filme über ihre Kindheit gedreht haben, über ihre Jugend: "Roma", "Belfast"; "Die Fabelmans" von Steven Spielberg. Das war eine Welle von autobiografischen Filmen. Ich habe ihm gesagt, Hark, wer sollte einen Film über seine Kindheit machen, wenn nicht du? Schau dir das doch mal an, auf einer Insel - eine geschlossene Welt, wie fotografisch! Was du mir erzählst über das Tierefangen, das ist so visuell. Mach doch das!

Dann hat er dieses Drehbuch geschrieben. Das war ein sehr langes und breites Drehbuch, 260 Seiten. Er hat es mit der Hand geschrieben und war dann nicht mehr in der Lage, das zu kürzen und zu strukturieren. Ich sagte dann, "Hark, darf ich das machen? Ich mache das schnell, ich mache nichts kaputt, versprochen." Dann habe ich das Drehbuch von 260 auf 90 Seiten gebracht.

Nach der Weltpremiere haben Sie im Saal gesagt, dass Sie ursprünglich dachten, Sie seien nicht der Richtige für diesen Film. Lag es auch daran, dass es hier nötig ist, aus der Nazi-Perspektive zu erzählen?

Akin: Deutschland 1945 ist für mich als Migrationskind aus der Großstadt der 70er-, 80er-, 90er-Jahre eine sehr andere Welt, ein anderes Genre. Das ohne Klischees und präzise zu erzählen, war für mich die größte Challenge. Das musste für mich präzise sein. Das war dann eine Mischung aus der Familie meiner Frau, die halb aus Schleswig-Holstein stammt, und Edgar Reitz. Das waren für mich die Parameter. Natürlich auch mit allem, was Hark mir erzählt hat.

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In der letzten Szene von "Amrum" ist Hark Bohm selbst zu sehen. Er steht am Strand von Amrum und blickt in die Abendsonne. Wann haben Sie diese Aufnahme gedreht?

Akin: Das habe ich vor zwei Jahren gedreht. Das war das Erste, was wir gedreht haben. Er war damals schon krank und sagt mir, "wenn ich im Film auftauchen soll, dann dreh' das mal lieber jetzt." Wir sind dann selbstfinanziert mit einer kleinen Crew dahin und sind froh, dass wir das gemacht haben.

Ein Thema im Film ist Migration. Es geht um Hamburger, die auf Amrum ankommen und sich fragen, wo ist meine Heimat? Da, wo man herkommt oder da, wo man sich wohlfühlt? Daneben gibt es Amrumer, die nach Long Island in New York fahren und zurückkommen. Hat es Sie interessiert, das herauszuarbeiten?

Akin: Das war im Drehbuch von Hark Bohm bereits enthalten. Deswegen hat Hark immer daran geglaubt, dass ich der richtige Regisseur für diesen Film wäre, was ich selbst nicht geglaubt habe. Er hat mir gesagt, "doch, du kennst das, du weißt, was das bedeutet, wenn deine Eltern die Heimat verlassen."

Was ist die Bedeutung von New York für die Amrumer? Die sind nicht alle vor dem Krieg geflohen.

Akin: Viele sind immer schon von Amrum aus nach New York beziehungsweise. nach Nantucket gegangen, und zwar zum Walfang. Amrum war selbst mal eine Walfängerinsel. Das finde ich so spannend, dass es so etwas in Deutschland gibt - diese Moby-Dick-Motive. Ich wusste auch nicht, dass so viele Kinder von Leuten, die auf Amrum leben, für die US-Army gekämpft haben - gegen Deutschland.

Was haben Sie aus diesem Film für sich mitgenommen?

Akin: Das sagt sich so einfach: Ich bin Deutscher. Bei den Amerikanern ist das etwas anderes. Bei diesen Tex-Mex-Amerikanern ist das in deren Kultur. Auch mit einem chinesischen oder koreanischen Hintergrund sagt er: Ich bin Amerikaner. Bei uns in Deutschland gibt es das Blutrecht seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr - das ist nicht so lange her. Klar kann ich aus Koketterie, als Politikum oder aus einer Überzeugung heraus sagen: Ich bin Deutscher. Aber bin ich das denn auch wirklich? Was ist das denn genau?

Ein Mann im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, mittellangen Haaren, lächelt auf den roten Teppich von Cannes  (Regisseur Fatih Akin bei der Eröffnung von Cannes)

Fatih Akin: "Wenn ich mehr Geld gehabt hätte, hätte ich alles im Studio gemacht."

Der Film hat mir mit meinen 51 Jahren gezeigt: Natürlich bist du Deutscher. Goethe hat gesagt: "Wo wir uns bilden, da ist unser Vaterland." Der Dude hat recht! Ich habe Lesen und Schreiben auf Deutsch gelernt, nicht auf Türkisch. Ich habe meine ersten Filme auf Deutsch gesehen. Ich war auf einer deutschen Filmhochschule. Dass das nicht alles Teil meiner DNA ist, denn meine DNA liegt irgendwo im Kaukasus, in Ägypten und Kreta, ist klar. Aber meine Seele - das sind die Straßen, die Umgebung, die Erziehung. Das habe ich mit diesem Film konkret gelernt: Das bist du wirklich.

Sprache spielt für die Identität eine wichtige Rolle. Die Bewohner von Amrum sprechen im Film untereinander Amrumer Friesisch, Öömrang. Nanning spricht mit seiner Mutter aber Hochdeutsch. Warum?

Akin: Ich habe bei meinen Recherchen ein Buch von einer Dänin entdeckt, die von ihrer Kindheit auf Amrum erzählt und schreibt, sie war in der Kindheit auf Amrum im einzigen Haus als Mieterin zu Gast, in dem Hochdeutsch gesprochen wird. Das war eine Hamburger Familie. Und das ist die Familie von Hark Bohm. Hamburg wurde 1943 ausgebombt, unmittelbar davor sind die Bohms nach Amrum gezogen, weil die Mutter daherkommt. Für die war es wichtig, dass zu Hause Hochdeutsch gesprochen wird. Aber außerhalb des Hauses wurde Öömrang gesprochen.

Der deutsche Film ist dieses Jahr sehr präsent in Cannes. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Akin: Es gibt doch diese Weisheit, dass, je schlechter es einem Land geht, desto besser sind die Filme. Unsere Komfortzone zerbröselt. Das Land, wo alles funktioniert und die Bahn pünktlich kommt, gibt es nicht mehr. Und jeder Achte wählt rechtsradikal, das Internet ist völlig im Arsch. Unserem Land geht es nicht gut. Das Positive ist: Eine Tür geht zu und eine andere geht auf. Das Kino, die Kunst, die reflektiert das. Das ist meine Theorie.

Das Drama "Yunan" auf der Berlinale spielt auf Wangerooge, Ihr Film spielt auf Amrum. Was sind das für Orte im Vergleich zum Festland?

Akin: In der Weltliteratur nehmen Inseln eine große Bedeutung ein. "Robinson Crusoe" handelt nur vom Essen. "Die Schatzinsel" ist ein Sehnsuchtsort, "Herr der Fliegen" ist ein Abbild der Gesellschaft in klein. Es gibt wahnsinnig viel Literatur zu Inseln und ich habe versucht, viel zu lesen, um genau das zu begreifen, was sie bedeuten. Inseln sind etwas Ikonisches.

Was waren die Herausforderungen auf Amrum?

Akin: Ebbe und Flut. Es verändert sich alles im Minutentakt. Es gibt eine Szene, wo am Ende fast jemand ertrinkt, wir mussten bei jedem Take das Boot verschieben, weil die Wasserkante schon wieder verrückt war. Das ist ein Naturschutzgebiet, daher darf man dort keinen Traktor nutzen. Wir mussten dieses eine Tonne schwere Holzboot selbst verschieben. Da habe ich gemerkt. wenn ich mehr Geld gehabt hätte, hätte ich alles im Studio gemacht.

Wie war die Zusammenarbeit mit dem zwölfjährigen Jasper Billerbeck, der seine erste Rolle überhaupt als jungen Hark Bohm gespielt hat?

Akin: Man muss Kinder mögen, der Rest kommt von selbst. Es ist immer schwierig zu besetzen und zu finden, du weißt nicht, ob du die Katze im Sack kaufst, das weißt du bei Erwachsenen aber auch nicht. Ich habe ihn in einem Casting mit 60 anderen Kindern gesehen, die hatten vorher schon 2.000 bis 3.000 gesichtet. Er stach sofort heraus, denn er sah aus wie Helmut Schmidt mit zwölf. Er war anfangs wahnsinnig scheu und schüchtern, am dritten Drehtag hat er hingelegt und nie wieder den Fokus verloren. Bei Diane Kruger mit "Aus dem Nichts" war es übrigens genauso.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Akin: Ich sollte gar nicht hier sein, ich drehe nämlich in acht Wochen den nächsten Spielfilm. Eine Liebesgeschichte mit Gespenstern. Eine Mischung aus "Ghost" und "Gespenster" von Christian Petzold. Und dann drehe ich einen Dokumentarfilm über die türkische Singer-Songwriterin Gaye Su Akyol, die in Berlin lebt.

Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur.

"Amrum" startet am 9. Oktober im Kino. Ein langes Gespräch von Hark Bohm mit NDR Kultur Redakteur Ocke Bandixen finden Sie hier.

Dieses Thema im Programm:
NDR Kultur | Journal | 16.05.2025 | 16:40 Uhr